(Nicht nur) Fussball in Marseille

Dieses Jahr war ich erstmals live an einem EM-Spiel. Da mich die Nati nicht sonderlich interessiert, habe ich mich für das Spiel Russland-England entschieden. Russland hat die schönste Hymne, England spielt derzeit den attraktivsten Fussball (und hat so einige Tottenham-Spieler dabei), zudem wollte ich endlich einmal Marseille sehen.

Am frühen Freitagnachmittag kam ich zum Alten Hafen von Marseille, wo sich die meisten Touristen und Fans trafen. Angezogen von der unglaublichen Stimmung einiger Briten betrat ich die „Brasserie Le Vieux Port“. Das Bier floss und die Fans sangen drei Stunden am Stück durch. Zwischen den England-Fans standen übrigens nicht wenige Russland-Fans, es wurde zusammen angestossen, die Stimmung war ausgelassen.

Ich war gerade im Innern des Lokals, als mir ein Typ sagte, dass ich nun besser kurz in das obere Stockwerk verschwinden würde. Als ich ihn fragend anschaute, zeigte er nach draussen. Ich sah Nebelschwaden und fliegende Stühle. Die Ausschreitungen kamen für die meisten Fans völlig überraschend.

Natürlich bin ich sofort in das obere Stockwerk gegangen, dort auf den Balkon, um mir das Geschehen anzuschauen. Innerhalb dieser Sekunden – mehr brauchte ich für den Weg nicht – hatte die Polizei die beiden Fanlager getrennt (mir wurde gesagt, dass Fans von Olympique Marseille angegriffen hätten – ich habe nicht gesehen, wer es war).

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Der ganze Spuk war nach weniger als zwei Minuten vorbei, ich bin zurück ins Lokal gegangen, das danach – wie alle Bars am Hafen – gleich für den Rest des Tages zugemacht hat. Von weiteren Ausschreitungen habe ich am Freitag nicht erfahren, in der Bar, in der ich das Eröffnungsspiel angeschaut habe, haben Russen und Engländer friedlich zusammen TV geschaut und über Payets Traumtor diskutiert.

Am Samstag war ich wieder am Hafen, Spuren von Ausschreitungen gab es keine (mehr). Für das Schweizer Spiel bin ich erneut in eine Bar in der Innenstadt gegangen. Irgendwann erreichte uns ein ziemlicher Gestank und die Augen brennten. In der Nähe gab es offenbar einen Polizeieinsatz mit Tränengas. Rund zwanzig Fans verschiedener Lager rannten zu uns in die Bar und blieben für den Rest des Spiels dort.

Beim Spiel Russland – England sah ich ebenfalls keine Gewalt. Weder vor, während noch nach dem Spiel. Diese laut Nachrichtenagentur SDA „einige Leuchtraketen“ aus dem russischen Block waren zwei Feuerwerksraketen. Sie wurden weder auf andere Fans noch aufs Spielfeld abgefeuert. Sondern in Richtung offenes Stadiondach. Ein russischer Fan zündete (kurz vor Schluss noch beim Stand von 0:1) zwei Leuchtfackeln und wurde darauf von den Engländern ausgepfiffen. Mehr an Pyro gab es nicht. Nach Spielschluss habe ich das Stadion verlassen und bin mit tausenden Fans in Richtung Innenstadt gegangen. Die Stimmung war eher bedrückt, aber von Gewalt habe ich bis zu diesem Zeitpunkt noch nichts mitbekommen.

Erst am Sonntagmorgen habe ich erfahren, dass es offenbar massive Ausschreitungen gab – dank einigen besorgten Nachrichten von Familie und Freunden.

Ich kann nicht sagen, wer wen angegriffen hat. So wie ich das erlebt habe, wurde eine friedliche Party von einigen Dutzend Idioten gestört, die Polizei war schnell vor Ort und hat rasch reagiert. Egal wie nah ich an den Ausschreitungen war, ich hatte immer die Möglichkeit, diesen aus dem Weg zu gehen und hatte auch zu keinem Zeitpunkt irgendwie ein komisches Gefühl oder gar Angst.

Nachtrag: Dass es zu Ausschreitungen vor und nach dem Spiel gekommen ist, bezweifle ich aufgrund der Bilder und Berichte nicht. Ich habe sie nur nicht erlebt.

Nachtrag 2: Simon Kuper, dessen Buch Soccernomics ich witzigerweise in Marseille gelesen habe, teilt meine Beobachtung. Auch er spricht von „symbolischer Gewalt für die Medien„. Lesenswert!